Virtuelle Realität und virtuelle Gemeinschaft - Flucht vor der realen Wirklichkeit?

Wolfgang Hesse, Universität Marburg

Virtual Reality - virtuelle Realität, kurz: VR - steht für eine Reihe von Techniken der Informatik, die neue Formen des Computer-Zugangs und der Interaktion mit dem Rechner erschließen. Schon einmal, vor ca. 20 Jahren, hat sich hier ein Umbruch vollzogen: von der damals üblichen eindimensionalen Computer-Eingabe per Kommandozeilen zur zweidimensionalen Interaktion aufgrund der sogenannten desktop metaphor, d.h. der Simulation eines Schreibtischs und der darauf befindlichen Dokumente auf einem Computer-Bildschirm.

Heute werden Techniken entwickelt und vermarket, die das dreidimensionale "Begehen" virtueller -d.h. künstlich erzeugter - Umgebungen ermöglichen sollen. Dem Nutzer solcher Techniken soll statt des bloßen Betrachtens eines "flachen" Bildschirms der Eindruck des "Eintauschens" (immersion) in eine künstliche, dreidimensionale Welt vermittelt werden. Dazu wird er mit neuartigen Zugangsgeräten wie den sogenannten Datenbrillen, -helmen, -handschuhen oder -anzügen ausgerüstet. Eine "Datenbrille" enthält beispielsweise zwei kleine Bildschirme, über die dem Betrachter oder genauer "Begeher" die virtuelle, mittels Graphik-Software erzeugte Umgebung unmittelbar ins Blickfeld eingespiegelt wird. Spezielle VR-Software sorgt dafür, daß z.B. der Effekt von Kopfbewegungen in den (Gegen-) Bewegungen der eingespiegelten Bilder oder daß der von Kollisionen oder Berührungen ausgehende Sinnesreiz per Datenhandschuh oder Datenanzug für den Benutzer simuliert wird.

Damit eröffnen sich neue Anwendungsfelder und -möglichkeiten, z.B. in der Medizin und Psychologie, bei der Prozeßsteuerung, in der Architektur, der Ausbildung, der Spiel- und Unterhaltungsindustrie. So erlauben Anwendungen in der Architektur das "Begehen" virtueller, d.h. nur als Graphik existierender "Räume" und ersetzen damit aufwendige materielle Modelle durch viel billiger herzustellende und oft doch "echter" wirkende virtuelle Substitute. Der Begeher solcher Räume kann diese ästhetisch und "räumlich" auf sich wirken lassen, zwischen Varianten wählen und Veränderungswünsche artikulieren - und diese bei Bedarf sofort in simulierter Form vorgeführt bekommen.

Eine besonders spektakuläre Anwendung in der Medizin beruht auf der Kopplung mit in den Körper eingeführten Miniatur-Kameras und Spezial-Operationsgeräten. Damit werden sogenannte "mini-invasive" Operationen möglich, bei denen der Operateur den Operations-Vorgang nicht mehr direkt, sondern indirekt, mit Hilfe einer VR-Apparatur und anhand der durch die Kamera übertragenen (diesmal "echten") Bilder vornimmt. In der Spiel- und Unterhaltungsszene entfaltet Virtual Reality nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Dafür sind zum einen die gesteigerten 3D-Präsentationsmöglichkeiten, zum anderen die im Zusammenhang mit der Vernetzung mehrerer Computer entstandenen vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten mit den anderen Spielern verantwortlich.

Wie jede neue Technik, ist auch die VR-Technik nicht frei von Gefahren und Risiken. Diese liegen zu einem Teil im medizinisch-gesundheitlichen Bereich, zum anderen sind sie psychologisch-sozialer Natur. So ist eine "Fern-Operation" eines möglicherweise weit vom Operationstisch entfernten Operateurs medizinisch nicht unkritisch. Weniger kritisch, aber unangenehm könnten sich Fehlschlüsse auswirken, die man aufgrund des "Begehens" eines virtuellen (und damit in letzter Konsequenz doch nicht dreidimensionalen) Baukörpers zu ziehen geneigt ist. Und langes "Eintauchen" in virtuelle Welten (bei Spielen oder anderen VR-Anwendungen) kann zu kurzfristigen Orientierungsproblemen oder gar Gleichgewichtsstörungen führen. Vor allem aber fürchtet man langfristige Wirkungen wie psychische Abhängigkeit, Vereinzelung und Identifikationsprobleme - bis hin zum Realitätsverlust als mögliche Folgen übermäßigen Reisens in virtuelle Welten.

Ganz wesentliche Impulse und eine besondere Richtung hat die VR-Entwicklung durch die etwa zeitgleich erfolgte weltweite Verbreitung des Internet bekommen. Dabei entstehen nicht nur in technischer, sondern auch in sozialer Hinsicht neue Kommunikationsformen und -strukturen. Diese werden oft unter dem Schlagwort "Virtuelle Gemeinschaft" zusammengefaßt. Darunter versteht man einen Kreis von durch das Netz verbundenen Menschen, die regelmäßig untereinander korrespondieren und die damit ein gemeinsames Beziehungsgeflecht aufbauen.

Es gibt sehr vielfältige Formen solcher Zusammenschlüsse , die sich je nach Teilnehmerkreis, thematischer Ausrichtung, Art der Interaktion, einzuhaltenden Regeln etc. unterscheiden. Sie reichen von einer simplen Mailing-Liste, mit deren Hilfe sich Interessenten an einem bestimmten Thema über Neuigkeiten, Arbeitsergebnisse, Ereignisse etc. gegenseitig informieren bis hin zu virtuellen Welten oder sogenannten "Verliesen", in denen die Teilnehmer in fremde Identitäten schlüpfen und außerhalb der gewohnten raum-zeitlichen Begrenzungen agieren können.

Die Anwendungen reichen hier von der Geschäftswelt über den Spiel- und Unterhaltungsbereich bis in den politischen, sozialen und spirituellen Sektor hinein. Im Geschäftsleben lassen sich durch Computer-Konferenzen, Telebanking, Teleshopping oder Telearbeit physische Bewegungen von Teilnehmern, Kunden oder Angestellten substituieren und damit (teilweise) einsparen. "Teilweise" deshalb, weil die Erfahrung zeigt, daß viele dieser Aktivitäten nicht ganz ohne körperlichen Kontakt der Beteiligten auskommen, d.h. ohne diesen ihren Charakter oder Sinn verlieren. Das Argument, man könne durch Computer-Konferenzen unnötige Geschäftsreisen einsparen, wird auch durch den bekannten Kompensations-Effekt erschüttert: Eingesparte Zeiten oder Ressourcen werden oft durch vermehrte Aktivitäten kompensiert oder gar über-kompensiert.

Beispiele für Virtuelle Gemeinschaften im nicht-geschäftlichen Bereich sind themengebundene Gesprächskreise, Diskussionsforen, politische Zirkel, Gruppen von Interessenten an kommunalen und sozialen Projekten, an Sport und Freizeitgestaltung sowie am Austausch religiöser und spiritueller Erfahrungen. In vielen euphorischen Publikationen ist ein Wandel der demokratischen Umgangsformen vorausgesagt worden: Bürger bekommen einen direkten Draht zu ihren Politikern, Basisdemokratie ließe sich verwirklichen, Wahlen und Abstimmungen könnten ad hoc per Computer durchgeführt werden, das Recht zur freien Meinungsäußerung könnte - mit Hilfe der neuen Plattform Internet - nahezu unbegrenzt ausgeübt werden. Neben die durch physische Nähe gekennzeichneten Familien-, Nachbarschafts- und Vereinsbeziehungen treten neue, keinen räumlichen Begrenzungen unterworfene und ständig (re-) aktivierbare Sozialkontakte.

Die reale Entwicklung weist allerdings in eine andere Richtung: In zunehmendem Maße werden die Netze durch Großanbieter bestimmt, die diese in erster Linie für kommerzielle Zwecke, d.h. Werbung und Verkauf nutzen. Der (durch unvermeidbare Auswüchse provozierte) Ruf nach Zensur verstärkt die Tendenz zur Konzentration und Kommerzialisierung und schränkt die individuellen und basisdemokratischen Möglichkeiten ein. Vom ahnungslosen Privat-Nutzer unbemerkt, fließen dessen Daten und Nutzungsgewohnheiten zurück zu den Anbietern und werden von darauf angesetzten Spezialisten gesammelt, zu Werbe- und Vermarktungszwecken aufbereitet und weitervermittelt.

Bekannte Autoren wie z.B. Howard Rheingold haben sich gefragt, was den besonderen Reiz und die Faszination virtueller Gemeinschaften ausmacht. Sicher ist da zunächst eine gute Portion Neugier oder Voyeurismus im Spiel (der ja auch den Erfolg herkömmlicher Medien wie der Regenbogen-Presse ausmacht). Weiter stellen virtuelle Gemeinschaften aber auch eine Art Gegenkultur in einer Welt wachsender Vereinzelung und Entfremdung dar und können als "sozialer Klebstoff" in einer beziehungsarmen Umgebung dienen. Der Computer wird zur "Beziehungskiste", mit deren Hilfe sich leicht unverbindliche Kontakte knüpfen lassen, ohne eigene Hemmungen überwinden oder Schwächen preisgeben zu müssen. Mit Hilfe der virtuellen Umgebung kann man - wenigstens zeitweise - einer ungeliebten, weil reizlosen, öden oder abweisenden realen Umgebung entfliehen ("Eskapismus"). Möglicherweise tun sich dabei neue, bisher ungeahnte Wahrnehmungs- und Erfahrungsräume auf, in die man abtauchen und alles andere um sich herum vergessen kann. Rheingold spricht hier von "Hyper-Realität".

Was läßt sich als Fazit aus dieser neuen Technik und ihren Anwendungen ziehen? Für die Anbieter versprechen sie big business: Die Werbung läßt sich noch gezielter und hautnaher an die bestehenden und potentiellen Kunden heranführen. Der Verkauf von Waren und Dienstleistungen wird erleichtert, etwa noch vorhandene Hemmschwellen beim Kunden werden erniedrigt, Geschäfte können weniger aufwendig abgewickelt und damit rationalisiert werden. Für Politiker und Interessenverbände bieten virtuelle Realitäten die bequeme Möglichkeit, von Unzulänglichkeiten oder Schädigungen der "realen" Realität abzulenken. Wer in einer virtuellen Welt auf Wolken wandelt, nimmt Umweltschäden oder Einschränkungen der Bewegungsfreiheit weniger deutlich oder gar nicht mehr wahr.

Für den unkritischen Konsumenten wird die Welt einfacher und geradliniger, eine Reihe unangenehmer Überraschungen bleiben ihm erspart. Die "Schöne neue (virtuelle) Welt" verschmilzt - wenn genügend lange konsumiert - mit der realen Welt, wird zu einer endlosen, universellen "World Soap Opera". VR macht Spaß und bringt den gewünschten Kick. Am Ende steht die Möglichkeit des kollektiven Realitätsverlusts: Die virtuelle Realität sticht die "reale Wirklichkeit" aus, weil sich die Mehrheit von ihrer Überlegenheit überzeugt hat.

Stellt diese Vision einer der kollektiven Schizophrenie verfallenden Gesellschaft eine reale Gefahr dar? Heute erscheint sie noch absurd - doch sollte man sich vergegenwärtigen, daß Gesellschaften in der Vergangenheit immer wieder in "virtuellen Realitäten" - verkörpert z.B. durch Sagen, Fabel- und Göttergeschichten, durch die Propaganda von Feudalherren, Diktatoren, Inquisitoren und Parteifunktionären - gelebt haben. In gewissem Sinne sind solche virtuelle Welten sogar sinnstiftend, richtungsweisend und damit lebenserhaltend für menschliche Gemeinschaften. Zur Gefahr werden sie dann, wenn in ihrem Namen und aufgrund ihrer Gesetze arrestiert, gefoltert und gemordet wird. So lassen sich hinterher als "Entgleisungen der Geschichte" eingestufte Perioden als Folge von kollektiv verloren gegangenem Realitätssinn erklären..

Gehen von der gegenwärtigen Welle der weltweiten Vernetzung und der "Virtualisierung" bestimmter Lebensbereiche konkrete Gefahren aus? Einige sind bereits immanent - werden aber vielleicht von vielen Mitmenschen noch als harmlos oder zumindest akzeptabel eingestuft: Dazu gehören die weiter fortschreitende, flächendeckende Kommerzialisierung und alles durchdringende Überflutung mit Werbung. Technisch bereits möglich ist die Ausspähung und Überwachung einzelner Personen, die unbemerkte Erfassung privater Daten - mit den entsprechenden Einbußen an Privatsphäre.

Wer sich darüber hinaus noch nicht von den Werbesprüchen einer paradiesischen "Informationsgesellschaft" einwickeln lassen will, wird Huxley's Vision einer "Schönen neuen Welt" nach wie vor brandaktuell, ja durch die neuesten Entwicklungen eher bestätigt finden: der Vision einer manipulierten, gefährdeten Menschheit, die sich von ihren realen Problemen, von der sie umgebenden und ihr Leben spendenden Natur abwendet, deren Signale nicht mehr wahrnimmt und damit eine wesentliche Fähigkeit zum nachhaltigen Überleben einbüßt.

Adresse des Autors:

Prof. Dr. Wolfgang Hesse,
FB Mathematik/Informatik, Philipps-Universität
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