Einige Zitate aus H.Rheingold: Virtuelle Gemeinschaft

Hier ist eine Sammlung von Zitaten aus dem Buch Virtuelle Gemeinschaft von Howard Rheingold, die ich mir zur weiteren Verarbeitung herausgeschrieben habe. Da ich meine, daß sie auch für sich gestellt einen recht guten Eindruck von einigen Aspekten des Themas geben, habe ich sie hier veröffentlicht. Falls Rheingold selbst zitiert, so ist dies durch die Angabe der Person in Klammern gekennzeichnet. Anführungszeichen sind auch aus dem Buch übernommen, in diesem Text wird zwischen Zitat und Nicht-Zitat durch die Schreibweise unterschieden (i.e. Zitate stehen kursiv). Die einzelnen Zitate sind sehr grob in Gruppen eingeteilt. Links und Literaturhinweise befinden sich auf einer extra Seite.

Zur sozialen Bedeutung

S.14:
In virtuellen Gemeinschaften versammelte Menschen tun fast alles, was Menschen im wirklichen Leben auch tun, aber sie sparen ihre Körper aus. Niemand ist da, den man küssen könnte, aber es kann dir auch niemand eins auf die Nase geben.

S.17:
Um sich klarzumachen, wie sich das ganze System entwickelt und fortpflanzt, kann man sich Cyberspace als eine soziale Petrischale vorstellen, das Netz als Nährlösung und die virtuellen Gemeinschaften in all ihrer Vielfalt als Kolonien von Mikroorganismen, die dort gedeihen. Jede dieser kleinen Kolonien von Mikroorganismen - die Gemeinschaften im Netz - stellt ein soziales Experiment dar, das niemand geplant hat, das aber dennoch stattfindet.

S.17:
Meine Beobachtungen des Online-Verhaltens rund um die Welt während der letzten zehn Jahre haben mich zu der Schlußfolgerung gebracht, daß, wo auch immer Menschen Zugang zu CMC-Technologien erhalten, sie damit unweigerlich virtuelle Gemeinschaften gründen, genau so, wie Mikroorganismen unweigerlich Kolonien gründen.

S.22:
Nun besitze ich überall auf der Welt gute Freunde, die ich ohne Vermittlung des Netzes nie getroffen hätte. Der große Kreis über das Netz geknüpfter Bekanntschaften vermittelt einen völlig neuen Erfahrungshorizont, wenn man eine fremde Kultur berei st. War ich in den vergangenen Jahren auf Reisen, so traf ich immer auf reale Gemeinschaften, die ich schon online Monate vor Antritt meiner Reise besucht hatte. Die gemeinsame Begeisterung für virtuelle Gemeinschaften diente uns als Brücke zu Menschen, deren Bräuche und deren Sprache unübersehbar verschieden war von den Gebräuchen und der Sprache derer, die ich in Kalifornien kenne.
Regelmäßig treffe ich Menschen und lerne sie Monate und manchmal Jahre bevor ich sie sehe, kennen. Dies ist einer der Aspekte, die meine Welt heute, mit ihren neuen Freunden und ihren neuen Themen, so verschieden macht von der Welt, in der ich lebte, bevor das Modem kam.

S.34(Jay Allison - WELL-Nutzer über die Erafhrungen, die er während der schweren Krankheit seiner Tochter machte):
Vor dieser Zeit hatte ich den Computer niemals benutzt, um Trost zu finden. Das lag mir vollkommen fern. Aber dann war es soweit. In diesen Nächten, in denen ich bis spät nachts bei meiner Tochter wachte, setzte ich mich an meinen Computer und gab unzusammenhängendes Zeug von mir. Ich schrieb über das, was in jener Nacht oder auch in jenem Jahr passiert war. Niemanden von denen, mit denen ich "sprach", kannte ich. Nie hatte ich sie gesehen. Um drei Uhr morgens schliefen meine "richtigen" Freunde, deswegen wandte ich mich an diese fremde unsichtbare Gemeinschaft, um Unterstützung zu erhalten. WELL war immer wach.
In der Isolation ist jedes Problem schwerer zu ertragen. An nichts kannst du dich orientieren, anlehnen. Als ich meine Tagebuchaufzeichnungen in einen Computer eintippte und über Telefonleitungen verschickte, fand ich Mitgefühl und Beistand in diesem Medium, das dafür gar nicht geeignet zu sein scheint.

S.38:
Einige - viele - Menschen tun sich schwer, wenn es um eine spontane, gesprochene Kommunikation geht, haben jedoch zu einer Unterhaltung, bei der sie lange genug über das nachdenken können, was sie sagen wollen, Wertvolles beizutragen.

S.39(J.C.R.Licklider (ARPA) - ca.1968):
Er spricht von der Vision, daß "das Leben für das Online-Individuum glücklicher sein wird, weil die Leute, mit denen man am meisten zu tun hat, eher aufgrund gemeinsamer Interessen ausgewählt werden, als wegen zufälliger räumlicher Nähe"

S.83(Sara Kiesler in Harvard Business Review):
Sie sagt, daß "die computervermittelte Kommunikation hierarchische Barrieren und Grenzen zwischen Abteilungen durchbrechen und gewohnte Vorgehensweisen und organisatorische Normen überwinden kann." Kieslers Beobachtungen stützen die unter Online-Enthusiasten schon lange populäre Theorie, wonach Menschen, die Diskussionen im realen Leben aufgrund ihres Rangs oder ihres aggressiven Verhaltens oft dominieren, in einer Online-Konferenz nicht stärker in Erscheinung tre ten als diejenigen, die in realen Diskussionen wenig oder gar nichts sagen, online dagegen viel beitragen.

S.237f (über Habitat):
Weil die Designer dem sozialen Verhalten der Avatars nur wenige Regeln auferlegten. sahen sich die Spieler in Habitat gezwungen, Debatten über soziales Verhalten zu führen. Eine der wesentlichen Fragen bestand dar in, wie die Avatars unter ontologischen Gesichtspunkten zu beurteilen seien: War ein Avatar die Projektion der Persönlichkeit des Spielers, und mußte daher respektvoll behandelt werden? Oder war ein Avatar nicht realer als die Figur eines Video-Spiels? Aus Abstimmungen ging hervor, daß die Spielergemeinschaft in dieser Frage gespalten war. Die Diskussion wurde erneut geführt, als eine Gruppe von Spielern viele andere Avatars erschossen, um auf das ungelöste Problem aufmerksam zu machen. In der folgenden großen Debatte, die über den Waffengebrauch in Habitat geführt wurde, wurden zwei interessante Beschlüsse gefaßt: Die Spieler beschlossen, Schußwaffen aus den Städten zu verbannen, aber außerhalb der Stadtgrenzen weiterhin zuzulassen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, Sheriffs zu wählen, denn wenn ein Gesetz beschlossen wird, muß es auch durchgesetzt werden. Das andere erstaunliche Ergebnis bestand in der Gründung des Order of the Holy Walnut, der ersten Religionsgemeinschaft in Habitat. Der Gründer, im wirklichen Leben ein Priester der Griechisch-Orthodoxen Kirche, erlegte seinen Gemeinschaftsmitgliedern auf, nicht zu stehlen und keine Waffen zu tragen.

S.254f (Über einen japanischen Arbeiter, der an COARA teilnimmt, einem japanischen CMC-System):
Ich fragte ihn, was ihn an COARA faszinierte, und er antwortete mit: "Haben Sie die dichten Wälder außerhalb der Stadt gesehen? Die Wälder, die sterben sind diejenigen, in denen nur eine Baumart gepflanzt wurde. Die Wälder, die überleben und denen es gut geht, bestehen aus vielen verschiedenen Bäumen. Ich glaube, daß es mit den Menschen genauso ist. Ich genieße es, viele verschiedene Meinungen kennenzulernen. Es tut meinem Verstand und meiner Seele gut."

S.295(Dave Hughes):
"Benjamin Franklin hätte als erster einen Apple-Computer besessen. Thomas Jefferson hätte die Unabhängigkeitserklärung mit einem PC von IBM geschrieben. Aber Thomas Paine hätte sein Common Sense über ein Bulletin-Board-System veröffent licht."

Suchtgefahren / Identitäten

S.191(Einschub - Pavel Curtis(PARC - LambdaMOO)): Suchterscheinungen von LambdaMOO

S.195(Einschub - Richard Bartle (MUD1)): Verlust des Charakters

S.281: Suchtfragen Minitel ("30 Tage ... 25.000 Dollar)

S.205ff: Geschlechterwechsel - Sue, Joan

S.283: Ausbreitung Online-Sexdienste, Zusammenbruch von Minitel

S.283: Denis, der Schauspieler, der vier bis fünf Frauen gleichzeitig mimt.

Zensur

S.19 (John Gilmore):
"Das Netz interpretiert Zensur als Fehler und umgeht sie."

S.286 (der für die Telekommunikation in Frankreich verantwortliche Minister auf die Frage nach Zensur des Minitel Systems):
"Der Briefträger öffnet keine Umschläge"

S.275 (Lionel Lumbroso, Betreiber von CalvaCom, eines CMC-Forums, antwortete auf die Frage nach dem sozialen Problem, das ihn am meisten aufgeregt hätte):
"Der Konflikt zwischen der Notwendigkeit, eine gastliche Atmosphäre aufrechtzuerhalten, und der Versuchung, Leute zu zensieren."

Vergleich zu anderen Medien

S.286 (Andrew Feenberg):

Kurioserweise ... widerstehen.

Peter Becker