Virtuelle Gemeinschaften - soziale Aspekte

 

 

Definition

"Virtuelle Gemeinschaften (VG) sind soziale Zusammenschlüsse, die dann im Netz entstehen, wenn genug Leute diese öffentlichen Diskussionen (Kommunikation) lange genug führen und dabei ihre Gefühle einbringen, so daß im Cyberspace ein Geflecht persönlicher Beziehungen entsteht."
(Rheingold: "Virtuelle Gemeinschaft" Seite 16)

Wie in der Einleitung bemerkt, beschreibt die Definition nicht nur eine Simulation von Personengruppen, sondern umfaßt jeglichen längerfristigen Kontakt im Internet. Diese Kontakte beschreibt Rheingold in seiner Definition als "soziale Zusammenschlüsse". Allerdings reicht ein oberflächlicher Kontakt nicht aus, denn für eine persönliche Beziehung müssen auch Gefühle mit eingebracht werden. Solche Gefühle bestehen aus Freude, Trauer, Mitleid, Lachen, Weinen, Dankbarkeit, Wut, Aggression und vielen mehr, die zwischen den Teilnehmern der virtuellen Gemeinschaft ausgetauscht werden. Dadurch entsteht für die Teilnehmer eines Teilgebiets (z. B. Newsgroups, Well, Worlds Away, IRC) des Internets ein Geflecht persönlicher Beziehungen. Menschen, die Zugang zu CMC - Technologien erhalten, würden, so Rheingold, unweigerlich virtuelle Gemeinschaften gründen. Die Ursache dafür liegt wahrscheinlich in einem wachsenden Bedürfnis nach Gemeinschaft, weil in der wirklichen Welt die Räume für zwanglose soziale Kontakte immer mehr schwinden. Anderen Autoren zu folge liegt die Bedeutung virtueller Gemeinschaften vor allem im Verlust des Bewußtseins sozialer Gemeinsamkeiten. Virtuelle Gemeinschaften gründeten sich im Unterschied zu natürlichen Gemeinschaften nicht auf verwandtschaftliche Verhältnisse oder räumliche Nachbarschaft, sondern allein auf gemeinsame Interessen im Netz.

Ein Beispiel, das Rheingold in seinem Buch "Virtuelle Gemeinschaft" (Seite 31) erwähnt:

"Im Sommer 1986 wurde meine damals zwei Jahre alte Tochter von einer Zecke befallen. Dieses blutdürstige Etwas saugte an der Kopfhaut unseres Kindes und wir wußten nicht genau, was zu tun war, um es wegzukriegen. Meine Frau, Judy, rief beim Kinderarzt an. Es war elf Uhr abends. Ich nahm Verbindung mit WELL auf. Innerhalb von wenigen Minuten erhielt ich meine Online - Antwort von einem Menschen mit dem unglaublichen, aber wahren Namen F. Gordon, Dr. med. Als Judy der Rückruf der Kinderarztpraxis erreichte, hatte ich die Zecke bereits entfernt.
Was mich erstaunte, war nicht nur die Geschwindigkeit, mit der wir genau die Information erhielten, die wir brauchten, exakt in dem Moment, in dem wir sie brauchten. Es war das intensive Gefühl von Geborgenheit, das sich bei der Entdeckung einstellt, daß wirkliche Menschen rund um die Uhr da sind, wenn man sie braucht."

Ein weiteres Beispiel beschäftigt sich mit der Musik im Internet. Verschiedene Künstler spielen zu Hause auf ihrem Instrument eine Melodie oder sogar ein ganzes Lied. Dieses Musikstück wird auf dem Computer gespeichert und dann nach England in ein Internet - Studio für Musik geschickt. Dort versuchen dann ein paar Menschen, die Musikstücke zu einem Lied zusammen zu schneiden. Dazu müssen sie immer in Rücksprache mit den Musikern bleiben und die Musiker müssen sich auch untereinander verständigen, damit das Lied fertig wird. Mit der Zeit entstehen engere Beziehungen, da sie das selbe "Hobby" verbindet. Sie tauschen Informationen aus über ihre Arbeiten, geben sich gegenseitig Hilfestellungen und Rat. So entstand eine virtuelle Gemeinschaft, die die Musik als Grundlage hat.
(Fernsehbericht aus dem ZDF von Februar 1997)

Nicht nur durch Hobbys oder gleiches Interesse finden sich virtuelle Gemeinschaften zusammen, sondern auch um sich gegenseitig zu helfen. Selbshilfegruppen, die zur Bekämpfung der eigenen Sucht dienen, sind im Internet eingerichtet worden. Da gibt es z.B. die "anonymen Alkoholiker", die ihre Erfahrungen mittels E - Mail untereinander austauschen. Eine weitere Selbsthilfegruppe beschäftigt sich mit den "Internet - Anonymus". In dieser "Internet-Anonymus" - Gruppe befinden sich Menschen, die süchtig nach dem "online sein" geworden sind. Inwieweit eine solche Sucht durch das Internet selber bekämpft werden kann, ist fraglich, soll aber an dieser Stelle nicht diskutiert werden.

Das Netz verfügt über ein großes Kommunikationspotential, das Menschen über nationale und ideologische Grenzen hinweg miteinander verbindet. Im Virtuellen Raum (VR) können sich die virtuellen Gemeinschaften über lokale Grenzen hinwegsetzen. Bislang bildete der Bildschirm die Grenze zwischen den Anwendern und der Maschine. Diese Grenze wird nun aufgelöst, weil die Anwender interaktiv in einem Raum hinter dem Bildschirm navigieren können. Der VR ist ein "Raum" in dem menschliche Kommunikation und Interaktion rechnergesteuert ablaufen.
Der Begriff "Virtueller Raum" ist auch unter dem Synonym "Cyberspace" bekannt, das ein Kunstwort ist und von dem Science - Fiction - Autor William Gibson erstmals in seiner Erzählung "Chrom brennt" benutzt wurde. Die wortwörtliche Übersetzung von "Cyberspace" lautet "im Raum navigieren" (von cyber (griechisch) = navigieren, steuern; space (englisch) = Raum).

 

Formen der Kommunikation im Internet

Arten der Kommunikationformen im Internet
Die Kommunikation im Internet beschränkt sich hauptsächlich auf den Austausch von Symbolfolgen (z.B. Schrift, Bilder, Zeichen). So gibt es per Chat (Talk) die Möglichkeit, daß zwei Personen miteinander direkt kommunizieren. Desweiteren ist es möglich, daß mehrere Personen gleichzeitig in einer 3D - Welt agieren. Dazu müssen sich die Teilnehmer in einem "Virtuellen Raum (VR)" aufhalten. Dieser Raum hebt die lokalen Grenzen durch das globale Internet auf.

Die Vorteile
Körperbehinderten Menschen kann diese Kommunikation helfen, die eingeschränkte Mobilität auszugleichen. Das Aussehen einer Person spielt im VR keine Rolle mehr. Dadurch werden Menschen nicht mehr nach Äußerlichkeiten (Hautfarbe, Aussehen, etc.), sondern nach inhaltlichen Äußerungen beurteilt. Für viele Menschen ist es oft leichter ihre Gefühle niederzuschreiben, als anderen Menschen dabei in die Augen zu schauen.
Männer können als Frauen und Frauen können als Männer Erfahrungen sammeln, die sie im realen Leben nicht erfahren können, indem sie die Identität des jeweils anderen annehmen.

Die Nachteile
Die Teilnehmer müssen ihren Körper zurücklassen, wenn sie an einer virtuellen Gemeinschaft teilnehmen. Dieses hat zur Folge, daß die meisten Sinne (z.B. Tastsinn, Geruchsinn) nicht mehr nutzbar sind. Da sich jeder in diesem Raum darstellen kann, wie er will, kann größere Anonymität - verglichen zum realen Leben - herrschen. Entscheidend ist auch die Beeinflussung des Menschen durch die Vorgaben der Maschinen.

"Im Darwinschen Sinne sind schöpferische Menschen schlecht ans Überleben in der Computerwelt angepaßt. Kurz: Das Medium, in dem wir kommunizieren, ändert die Art und Weise, wie wir unsere Gedanken formen. Wir programmieren Computer, aber diese programmieren auch uns."
(Zitat von Clifford Stoll, "Die Wüste Internet"; Seite 77)

Beispielsweise reduziert sich die Online - Kommunikation auf vorgegebene Zeichen. Dies erschwert die Einschätzung des "Gegenübers", weil Unterschiede der realen Menschen, wie Kleidung, Gesichtsausdruck, Akzent und Geschlecht verloren gehen.

 

Kommentar

Warum entsteht dann überhaupt eine solche Gemeinschaft?

"Kollektives Nutzen ist sozialer Klebstoff, so daß es einer Gemeinschaft gleicht."
(Rheingold: "Virtuelle Gemeinschaft")

Es gibt drei Arten von kollektivem Nutzen. Zum einen der soziale Nutzen des Netzes, das Wissenskapital und das Gemeinschaftsgefühl. Der soziale Nutzen des Netzes zeigt sich auch darin, daß Menschen, die auf eine virtuelle Gemeinschaft stoßen, welche sie zuvor nicht kannten, erst einmal willkommen geheißen werden. Das Wissenskapital bezeichnet zum einen das Wissen, das von der virtuellen Gemeinschaft zur Verfügung gestellt wird, und zum anderen das selbst eingebrachte Wissen. Das Gemeinschaftsgefühl wird hervorgerufen, wenn tiefgreifende Erlebnisse oder Probleme mit der virtuellen Gemeinschaft ausgetauscht werden.
Inwieweit läßt sich dieses Gemeinschaftsgefühl mit dem aus der "realen Welt" vergleichen? Es gibt dort verschiedene Auffassungen. So sagen einige: Es ist ihnen zu "oberflächlich", die Menschen sind mir etwas gleichgültiger, oder ich freue mich mehr über Kontakte, die mit einem realen Körper in einem realen Raum stattfinden. Andere behaupten, daß sie auch über das Internet "tiefgreifende" Beziehungen haben können. Es ist einfacher, Gefühle aufzuschreiben, als sie auszusprechen. Sie sind also unter Umständen im Internet leichter zu äußern.

"An der Universität in Holland, an der ich studiert habe, gab es eine Menge junge Männer, die in verschiedenen Muds und Chats, virtuellen Gemeinschaften waren. Im Internet konnten die alles, sich Personen nähern, sie verletzen, alles mögliche mit ihnen anstellen, aber in Wirklichkeit waren sie alle extrem schüchtern. Die Gefahr besteht also darin, daß man eine klaffende Lücke zwischen seiner Phantasie und der Realität entwickelt. "
(Medienkünstlerin Merel Mirage)

Warum gehen Menschen überhaupt in eine virtuelle Gemeinschaft? Eine Mutmaßung ist: Es ist eine Flucht aus der realen Welt in eine Phantasiewelt. Besonders heute ist dies nicht unwahrscheinlich, da viele diese Flucht über die zunehmende "Unbewohnbarkeit" der Umwelt hinwegtrösten kann. (Unter der Umwelt ist hier das soziale Umfeld und die Natur gemeint.)
Für die Präsenz in einer Gemeinschaft wird eine Menge an Zeit benötigt. Dies trifft natürlich auch auf die virtuelle Gemeinschaften zu, so daß man sich währenddessen der sozialen Umwelt entzieht. Dies kann zu Spannungen führen, besonders wenn jemand seine Probleme oder Erfolge nur noch mit der virtuellen Gemeinschaft teilt. Somit geht diese Zeit natürlich für traditionelle, soziale Beziehungen "verloren".

 

Begriffserklärung:

 

Literatur & Links: