Realitätsverlust

Unter Realität soll die unabhängig von der Existenz des Lebens, des Psychischen und des Menschen existierende physikalische Welt verstanden werden, sei sie nun der menschlichen Erkenntnis zugänglich oder nicht. Unter Wirklichkeit verstehen wir demgegenüber alle Formen der subjektiven Erscheinung der Realität, seien sie unmittelbar als Abbild, mittelbar als logische Ableitung, als kausal determiniert oder als unabhängig von der Realität angesehen.

Realitätsverlust, treffender wäre der Terminus Realitätsverschiebung, bezeichnet daher lediglich die Abweichung der Realitätsinterpretation eines Menschen oder einer Gruppe von der getroffenen Übereinkunft. Wie jede Übereinkunft kann auch diese Realitätskonvention zum Beispiel durch neue Erkenntnisse verändert werden

In Computerspielen und VR-Systemen werden häufig Oberflächen benutzt. Oberflächen lassen sich zu einer Selbstdarstellung benutzen, doch besteht die Gefahr, daß durch die Beliebigkeit der Zusammensetzung und durch die Aufhebung des ursprünglichen Kontextes die Oberflächen immer schwerer interpretierbar werden und letztlich ihre Bedeutung verlieren können. Diese Oberflächenkollaps könnte schließlich zu einer Neubewertung der Bedeutung von Schönheit auch der realen Lebenswelt führen, was wiederum die Orientierungslosigkeit bei der Auswahl geeigneter Fragmente zur Oberflächenbildung vergrößern würde.

Einen anderen Aspekt wirft die Frage auf, inwieweit die VR zu einer Entsinnlichung sowohl im Sinne einer Vernachlässigung von Sinnen (wie Geruch oder Tastsinn) als auch im Sinne eines Verlustes subjektiver Sinnlichkeitsexpression durch Standardisierung von Kommunikationsweisen. Diese klingt zunächst widersprüchlich, strebt doch grade die VR eine möglichst realistische Simulation an. Solange aber eine vollständige realistische Simulation noch ausbleibt, kann der Benutzer versucht werden, eine fast realistische Simulation mit einer realistischen Simulation gleichzusetzen. So kann es zu einer unbewußten Vernachlässigung bestimmter Sinneseindrücke kommen, die letztlich zu einer Veränderung des Repertoires menschlicher Ausdrucksmöglichkeiten führt.

Jede VR-Simulation setzt die vorherige Modellierung auf. Die Verarbeitung durch den Computer erfordert ein quantitatives Modell der Wirklichkeit, das zwangsläufig zur Reduktion der Komplexität durch Formalisierung der Realität führt. Es entsteht daher ein nicht vollständiges Modell der Realität. Zunächst besteht die Gefahr, nicht formalisierbare Bereiche einfach auszuklammern. Wenn durch eine ständige Auseinandersetzung mit den Modellwelten das Wissen um den Modellcharakter verloren geht, kann dies zu einer problematischen Verschiebung der Realitätswahrnehmung führen. Die Modelle werden anstelle der realen Welt wahrgenommen.

Ein weiteres Problem entsteht, wenn bestimmte Verhaltensweisen, die nun in der Virtuellen Realität (folgenlos) möglich sind, auf die reale Welt übertragen werden. Seit langem wird darüber diskutiert, ob Gewaltdarstellung im Film zu einer Verrohung von Kindern und Jugendlichen führt. In der VR-Systeme kann der Betrachter aber nicht nur Gewalt beobachten, sondern auch direkt ausüben. Inzwischen gibt es VR-Spielautomaten, bei denen die wichtigste Aufgabe des Spielers darin besteht, Menschen zu erschießen. Wenn in Zukunft die Realitätsnähe der Systeme steigt, ist es nicht überspitzt zu behaupten, daß dies einer paramilitärischen Übung gleichkommt.

Auch wenn der Suchtbegriff zur Zeit eine inflationäre Verwendung erfährt, kann man, sofern man den Suchtbegriff auf die Verhaltensabhängigkeit einengt, im Zusammenhang mit dem Computer und insbesondere mit Computerspielen von einer gewissen suchterregende Wirkung sprechen. Die Bildung von Verhaltensabhängigkeiten in besonderer Weise von einer Kombination gleichzeitiger Stimulation und Entspannung abhängig. Bei Videospielen ließe sich dieser Zusammenhang durchaus belegen, da hier permanent ein Wechsel von längeren Phasen höchster Konzentration und Anspannung und kurzen Phasen des Gelöstseins stattfindet. Gleichzeitig lassen die Spiele Aggressionen abreagieren und vermitteln den Jugendlichen ein Gefühl der Stärke, was in Verbindung mit einem schwach ausgeprägten Selbstbewußtsein, welches die Sucht auslöst, einen weiteren Reiz darstellt. VR-Systeme dürften durch die hohe Realitätsnähe eine zusätzliche Faszination bieten.

Statistiken Suchterscheinung

Wachsende Teile der Bevölkerung vor allem in den Großstädten leiden unter Einsamkeit. Diese Gruppe können zukünftig anfällig für VR-Systeme sein, wenn sie ihnen einen Gesprächspartner suggerieren. Die Beobachtung Joseph Weizenbaum mit seinem ELIZA-System verdeutlichen, daß die Bereitschaft, den Computer als Gesprächspartner zu akzeptieren, mitunter sehr groß ist. Dieses Programm erzeugt eine auf den Benutzer abgestimmte Befragung. Die Antwort des Benutzers auf eine Frage des Systems wird bei der Auswahl der nächsten Frage berücksichtigt, so daß der Verlauf der Sitzung sich deutlich vom Ausfüllen eines Fragebogens unterscheidet. Entwickelt wurde das Programm für psychologische Einsatzgebiete, also als virtueller Therapeut. Es stellt sich natürlich die Frage, ob ein ähnliches System durch Kombination mit einem synthetischen Darsteller, wie es in einem VR-System möglich wäre, eher zu einer Zu- oder Abnahme der Glaubwürdigkeit führt.


Literatur : Sven Bormann, Virtuelle Realität

 
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